Renate Markewitz
Marytė Margevičiūtė-Savickienė
„Wer bin ich?“ – diese Frage hat sich Renate Markewitz Jahrzehnte lang gestellt. Eine Antwort erhielt sie erst, nachdem sie ihre in der Kindheit verlorene ältere Schwester Brigitte wiedergefunden hatte.
Renate Markewitz wurde am 4. Juli 1940 im ostpreußischen Gerdauen als Tochter von Fritz und Erna Markewitz geboren. Der Vater war Bildhauer, die Mutter Hausfrau. Renate hatte fünf Geschwister: die Brüder Hans-Dietrich (geb. am 2. August 1934) und Helmut (geb. am 7. Februar 1937) sowie die Schwestern Brigitte (geb. am 28. Januar 1939), Dagmar (geb. am 28. August 1941) und Monika (geb. am 14. August 1943).
Als der 2. Weltkrieg begann, wurde Fritz Markewitz eingezogen. Einige Zeit später erhielt die Familie die Nachricht, dass er gefallen sei. Erna Markewitz blieb mit den sechs Kindern und ihrer Mutter Auguste Grönig allein zurück. Rings umher wüteten sowjetische Soldaten: plünderten, vergewaltigten und mordeten. Bald darauf begannen sie zu hungern. Erstes Opfer der Hungersnot war Renate Großmutter Auguste Grönig. Sie starb 1946. Im Jahr darauf starb Renates Schwester Dagmar den Hungertod. Renate, ihre Schwester Brigitte und die Brüder versuchten täglich, etwas Essbares zu ergattern: sie durchwühlten Müllhalden und unter Trümmern begrabene Keller, und in ehemaligen Ställen suchten sie nach Tierkadavern. Einmal fanden Renate und Brigitte in einem Güterwaggon erfrorene Kartoffeln, die sie mit nach Hause nehmen wollten. Das hatten sie schon manchmal getan, doch dieses Mal wurden sie und einige andere Kinder von sowjetischen Soldaten erwischt, daraufhin vergewaltigt und verhöhnt.
Unterdessen hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt. Renate sprang heraus, und Brigitte fuhr weiter bis nach Litauen. Dort irrte sie umher, musste viel Leid erfahren, bis sie schließlich von einer kinderreichen Familie aufgenommen wurde. Zwischenzeitlich lebte sie auch im Waisenhaus. Mit sechzehn Jahren begann sie in der Schuhfabrik „Roter Oktober“ in Kaunas zu arbeiten. Sie gründete eine Familie und bekam drei Töchter. Zunächst lebte sie in Kaunas, später kehrte sie nach Deutschland zurück. All die Jahre suchte sie ihre verlorenen Angehörigen – die Mutter, die Schwestern und die Brüder.
Renate blieb nach ihrem Sprung aus dem fahrenden Zug zunächst bewusstlos im Graben neben dem Bahndamm liegen. As sie wieder zu sich kam, wusste sie nicht wohin sie gehen sollte. Sie beschloss dann, in Fahrtrichtung weiterzugehen und gelangte schließlich vollkommen ausgehungert auf den Marktplatz von Tilsit. Dort traf sie einen unbekannten Mann, der sie mit nach Litauen nahm. Dort ließ er sie zurück und schärfte ihr ein, sie solle jedem Menschen, dem sie begegnete, auf Litauisch sagen: „Mano vardas Marytė. Aš Marytė.“ („Ich heiße Marytė. Ich bin Marytė.“).
Der Bahnhof von Pagėgiai war Renate erste Station in Litauen. Dem folgten unzählige Dörfer, gute und böse Hofbesitzer sowie ständige Bettelei um einen Kanten Brot. Eine Zeit lang lebte Renate in Gilandviršiai (heute Rajongemeinde Tauragė) bei der Familie Gedvilai. Später gelangte sie nach Sodėnai (heute Rajongemeinde Pagėgiai) zu Stasė Čarienė, die dafür Sorge trug, dass Renate getauft würde. Mit fünfzehn und sechzehn Jahren lebte sie in Vidgiriai (Rajongemeinde Pagėgiai). 1961 wurde ihr Sohn Vladas geboren. Renate hatte damals keine Personaldokumente und kannte weder ihren Nachnamen noch ihre Nationalität. Da sie einen dunklen Teint hatte, nannte man sie Jüdin oder Zigeunerin.