Günter Cilinski
Gintautas Cilinskas
„Es ist traurig, dass ich ganz allein, ohne Angehörige, und noch dazu in einem fremden Land bin.“
Günter Cilinski wurde 1934 in der ostpreußischen Kleinstadt Brandenburg geboren. An seine Mutter kann Günter sich nicht mehr erinnern, da sie in jungen Jahren starb. Er und seine Schwester Eli-Gims sowie die Bruder Hans (Jahrgang 1933) und Dietrich (Jahrgang 1938) wuchsen bei dem Vater Emil Cilinski und der Stiefmutter Erna Cilinski auf.
Eli-Gims war die älteste der Geschwister und verließ nach der zweiten Heirat des Vaters das Haus, um bei einem deutschen Landwirt als Bedienstete zu arbeiten. Während des Krieges kehrte der Landwirt wie viele andere nach Deutschland zurück und nahm Eli-Gims mit. Danach hat die Familie nie wieder etwas von ihr gehört.
Günters Vater Emil Cilinski wurde beim Ausbruch des 2. Weltkrieges eingezogen. Günter Cilinski erinnert sich, dass sie noch einen Brief von ihm erhielten. Auch von ihm verlor sich danach jede Spur.
Als die Rote Armee eintraf, wurden alle aus ihren Häusern vertrieben. Damit begann ihre Irrfahrt. Ständig auf der Suche nach Obdach und etwas Essbarem gelangten sie in jenem harten Winter nach Ludwigsort.
Der ausgehungerte Hans schwächelte zusehends. Eines Tages im Winter 1946 fand Günter ihn mit aufgeblähtem Bauch im Schnee liegend, zwar noch am Leben, aber schon ganz schwach. Sein Bruder Dietrich und er brachten ihn dann mit dem Schlitten nach Hause und gaben ihm zu Essen. Zwei Tage später war Hans tot. Die Brüder hoben eine Grube aus und bestatteten ihn darin.
So waren sie nur noch zwei. Weil sie nichts anderes zu Essen hatten, fingen sie Hunde und Katzen. Als alle Hunde und Katzen weggefangen waren, blieb nur noch der Hunger. Dann hörten die Geschwister, dass man in Litauen etwas zu Essen bekommen könne.
„Es war schwer, nach Litauen zu gelangen. Wir wussten, dass sie alle zurückschicken wollten. Als wir einen offenen Güterwaggon mit Steinkohle sahen, sind wir hinaufgeklettert, haben eine Höhle in die Steinkohle gegraben, um uns darin zu verstecken. Nur ein kleines Loch haben wir zum Atmen gelassen. So gelangten wir nach Litauen.“ Im Frühjahr 1946 stiegen die Brüder auf dem Bahnhof Kaunas aus. Da sie kein Litauisch sprachen, konnten sie nicht einmal etwas zu Essen erbitten. Aber die meisten verstanden auch so, was sie brauchten. Die einen gaben ihnen zu Essen, die anderen etwas zum Anziehen.
Schließlich erhielten sie in einem Holzhaus auf einem Hügel bei einsamen Alten Obdach. Sie ließen die Brüder dort übernachten. Nun gingen Günter und Dietrich tagsüber auf Betteltour, und am Abend kehrten sie zu den Alten zurück. Das zog sich ungefähr einen Monat hin. Eines Tages fing man in Kaunas an, alle Deutschen einzusammeln. Die wurden dann in LKWs verfrachtet und zum Bahnhof Kaunas gebracht, wo schon Waggone für den Abtransport bereitstanden. Auch Günter und Dietrich landeten in einem solchen Waggon. Sie wussten nicht, wohin man sie bringen wollte, aber sie argwöhnten, dass es zurück nach Deutschland gehen sollte. Unterwegs versuchten einige, eine Gelegenheit zur Flucht abzupassen. Auch die Brüder beschlossen zu fliehen. Günter brach sich bei dem Sprung vom Zug einen Zeh.
Wieder in Freiheit begannen die Brüder eine Zeit durch Jūrė und die nähere Umgebung zu ziehen. Niemand wolle sie aufnehmen, da sie voller Läuse waren. Sie übernachteten daher in Heuschobern oder in Heuhaufen auf dem Feld. Sie bewegten sich Richtung Gudeliai (heute Rajongemeinde Kazlų Rūda) und kamen schließlich nach Šimėkai (heute Rajongemeinde Kazlų Rūda) in der Nähe von Plutiškės. Sie hatten nie genug zu Essen und waren immer hungrig. Da sie gemeinsam nicht genug erbetteln konnten, beschlossen sie sich zu trennen. Günter wollte in der einen Hälfte des Dorfes betteln gehen, Dietrich in der anderen. Sie hatten vereinbart, wo und wann sie sich wiedertreffen, doch als Günter zum verabredeten Treffpunkt kam, war der Bruder nicht da. So verloren sie sich vollends aus den Augen.
Dietrich landete bei dem Bauern Černiauskas in Grigaliūnai (heute Rajongemeinde Prienai). Dort durfte er im Sommer Schafe und Kühe hüten. Im Herbst schickten sie ihn wieder fort. Dann geriet er an den Bauern Mažeika. Dieser ließ ihn hart arbeiten und schonte ihn nicht. Aber er durfte die Grundschule besuchen. Dietrich war ein fleißiger Schüler mit gutem Betragen, doch die Pflegeeltern wollten nicht, dass er weiter zur Schule ginge. Sie brachten ihn als Arbeitskraft auf dem Hof. Die Lehrerin konnte sie jedoch umstimmen, und so konnte er in Skriaudžiai (heute Rajongemeinde Prienai) die Siebenjahresschule beenden. Die Pflegeeltern adoptierten ihn und gaben ihm einen neuen Namen. So wurde aus Dietrich Cilinski Vytas Mažeika. Er ergriff später einen Beruf und erhielt eine Anstellung. Zwischendurch leistete er seinen Wehrdienst bei der sowjetischen Armee. Schließlich gründete er eine eigene Familie.
Im Frühjahr 1946 geriet Günter in dem Dorf Šimėkai (heute Rajongemeinde Kazlų Rūda) an den Bauern Žieglys, dessen Vater ein wenig Deutsch sprach. Dieser sprach Günter an und brachte ihn daraufhin zu dem Bauern Juozas Kurtinis nach Jasenava (heute Rajongemeinde Prienai). Günter durfte bei ihm bleiben und auf seinem Hof arbeiten. Die Pflegeeltern behandelten ihn gut und Günter gewann sie schnell lieb. Die Schule ließen sie ihn jedoch nicht besuchen. Litauisch lesen und schreiben brachte er sich selber beim Kühe hüten bei.
Bis 1961 war Günter nirgendwo gemeldet. 1961 wurde er von einem Milizionär vor Ort entdeckt und nach Prienai beordert. Dort sagte Günter alles, was er über sich wusste und erhielt darauf einen Pass mit einem lituanisierten Namen. Aus Günter Cilinski wurde Gintautas Cilinskas. Ab 1962 besuchte Gintautas Cilinskas die Landmaschinenschule Balbieriškis (heute Rajongemeinde Prienai). Er wurde als Traktorist ausgebildet und begann daraufhin in der „Ąžuolas“-Kolchose (Rajongemeinde Prienai) zu arbeiten.
Günter und Dietrich lebten nur durch einen Wald voneinander getrennt und gingen sogar in die gleiche Kirche. Trotzdem sind sie sich mehr als 20 Jahre lang nicht begegnet. Erst als Erwachsene trafen sie sich wieder. Günters Nachbarin Liutvinienė hatte ihm von einem „kleinen Deutschen“ (vokietukas) erzählt, der in dem nahen Dorf Plutiškiai (heute Rajongemeinde Prienai) bei dem Bauern Mažeika lebte. Dieser „kleine Deutsche“ war niemand anders als Günters Bruder Dietrich.
1971 zog Günter zu seinem Bruder Vytas (Dietrich), welcher damals in Kazlų Rūda lebte. Er erhielt eine Anstellung als Schweißer in der Mechanikfabrik. In Kazlų Rūda lernte es seine zukünftige Frau kenne, mit der er später die beiden Söhne Šarūnas und Tomas großzog.
Bereits zu Sowjetzeiten hatte Günter das Rote Kreuz angeschrieben, weil er sich Informationen über seine Angehörigen erhoffte. Die Antwort war jedoch negativ. Nach Widererlangung der litauischen Unabhängigkeit wurde Günter Mitglied des deutschen Vereins „Edelweiß“ und schrieb in einer deutschen Zeitschrift einen kurzen Artikel über sich. Darauf meldete sich ein Onkel sowie die Tante Gerda Martens. Im Mai 1992 kam sie zu Besuch nach Litauen und traf nach vielen Jahren ihre Neffen Günter und Dietrich wieder. Gemeinsam mit der Tante besuchten die Brüder daraufhin auch ihren Heimatort Brandenburg.
Nachdem die Brüder vor den Schrecken des Krieges nach Litauen geflohen waren, hier Familien gegründet und gearbeitet hatten, sind sie auch in Litauen gestorben.