Hans-Werner Puschnakowski
Jonas Drižnius
„Ob sich jemand vorstellen kann, was es für ein sieben- bis achtjähriges Kind bedeutet, einen Sommer und fast zwei Winter in einem verwüsteten Land absolut alleine, ohne Angehörige, ohne Zuhause, ohne Obdach und vor allem ohne einen täglichen Bissen Brot zu überleben?“
Hans-Werner Puschnakowski wurde am 28. August 1938 in Ostpreußen in der Stadt Königsberg geboren.
Hans-Werner erinnert sich, dass alle fünf- bis sechsjährigen Kinder, darunter auch er selbst, aufs Land geschickt wurden, als die Front näherrückte. Dort wurden sie eingeschult. Zunächst lernten sie, mit dem Griffel zu schreiben. Ihr Schulbesuch wurde jedoch jäh unterbrochen, als die Rote Armee angriff. Diese Unterbrechung währte lang und brachte viel Leid mit sich.
Hans-Werner erzählt: „Immer öfter hörten wir das schrille, unendliche Angst hervorrufende Geräusch der herannahenden Flugzeuge. Immer lauter wurden die Explosionen, die Erde zum erbeben ließen, immer öfter färbte sich am Abend vom Widerschein der Brände der ganze Himmel rot. Die Trümmer, Leichen und Verwundeten mehrten sich zusehends. Meine Mutter verdeckte mir mit ihrer Hand die Augen, damit ich so wenig wie möglich davon mitbekam. Aber wie soll man verbergen, was sich nicht verbergen lässt? Überall lagen Leichen... Viele waren schlimm zugerichtet, ohne Kopf, ohne Beine oder mit herausquellenden Eingeweiden. Das waren nicht nur die Leichen von Soldaten, sondern auch von Alten, Frauen und Kindern.“
An seinen Vater kann sich Hans-Werner nicht mehr erinnern. Aus den Erzählungen der Mutter weiß er nur noch, dass er Offizier war und viele Sprachen beherrschte. Hans-Werner hat leider bis heute nichts über sein Schicksal in Erfahrung bringen können.
Im Winter 1945 mussten sie noch nicht hungern, da es in den verlassenen Häusern und deren Kellern noch Lebensmittelvorräte gab. Schwerer war es, Obdach zu finden, denn ihr eigenes Haus hatten sie bereits verloren und mussten von einem Dorf zum nächsten ziehen. Damals waren Hans-Werner, seine Mutter und der ältere Bruder Georg noch zusammen.
Den Bruder Georg verlor er im Sommer 1946. Während sie über die Felder gingen, stießen sie auf drei russische Soldaten. Einer der Soldaten stieß dem 15-jährigen Georg ein Gewehr in den Rücken und befahl ihm, mitzukommen. Das war das letzte Mal, dass Hans-Werner seinen Bruder gesehen hat. Wohin er gebracht wurde und wie sein weiteres Schicksal aussah, weiß er nicht. „Vieleicht wurde er einfach erschossen, vielleicht auch in einem Lager interniert oder nach Sibirien geschickt.“
Hans-Werner blieb allein mit der Mutter zurück. Im Frühjahr 1946 wurde es zusehends schwieriger etwas Essbares aufzutreiben. Hans-Werner und seiner Mutter waren froh, wenn sie ein Stück Aas oder erfrorene Kartoffeln fanden. Das fortwährende Hungern, die Kälte und das Fehlen eines eigenen Daches über dem Kopf hatten Folgen: Hans-Werner wurde krank. Seine Mutter tat alles, um ihn den Klauen des Todes zu entreißen. Hans-Werner möchte an dieser Stelle einem unbekannten russischen Soldaten danken, der Mitleid mit ihnen hatte und seiner Mutter Medikamente und mit Alkohol übergossene Beeren schenkte. Damit hat seine Mutter ihn behandelt. Hans-Werner blieb eine Zeitlang bettlägerig, doch allmählich wurde er gesund.
Er weiß noch, dass sie in irgendeinem Dorf eine Unterkunft gefunden hatten. Eines Nachts gewährte seine Mutter einer verirrten Deutschen mit ihrem Sohn Obdach. Der Sohn war vielleicht zwölf oder vierzehn Jahre alt. Sie hatten bemerkt, dass Hans-Werner und seine Mutter einige Futterrüben wie einen „Schatz“ hüteten. Die ausgehungerten Gäste wollten die Rüben haben, aber Hans-Werners Mutter verweigerte sie ihnen, denn damals war es sehr schwer etwas Essbares zu finden. Daraufhin töteten die fremde Frau und ihr Sohn Hans-Werners Mutter.
Hans-Werner erinnert sich: „Als ich neben Mutters Leiche stand, fiel mir ein, dass sie eine kleine Handtasche hatte. Sie war braun, wenn ich mich nicht irre. Da sie so klein war, konnte meine Mutter sie leicht unter der Kleidung verbergen. Und das war notwendig, denn die russischen Soldaten wollten nicht nur Frauen, sondern auch Ringe, Schmuck und Uhren. In dieser Handtasche hatte Mutter ein paar Fotos, Dokumente und ihre kleine, runde, goldene Armbanduhr aufbewahrt. Ich habe die Fotos und die Uhr aus der Tasche genommen, die Dokumente aber da gelassen. Das hat sich als riesiger Fehler erwiesen. Damals war mir das noch nicht klar.“ Bis heute weiß Hans-Werner nicht, wo seine Mutter begraben liegt.
Der zehnjährige Hans-Werner war nun allein auf sich gestellt. Damit begann für ihn eine Zeit voll Hunger, Kälte, Armut und beständiger Angst. Hans-Werner kann sich nicht erinnern, wo er von Litauen gehört hatte und davon, dass man dort Brot, Kleidung und Obdach erhalten kann. Er wusste nicht einmal, wo dieses Litauen liegt. Eines Abends jedoch ist er heimlich an den Wachleuten vorbei auf einen Güterwaggon gekrochen. Auf diese Weise gelangte Hans-Werner Ende Mai oder Anfang Juni 1947 nach Kaunas. So gelangte er bettelnd vom Bahnhof Kaunas zum Soldatenfriedhof in Aukštieji Šančiai, damals noch ein Vorort von Kaunas. Dort fand Hans-Werner ein verlassenes Haus, das ihm eine Zeitlang als Unterkunft und „Festung“ diente.
Nicht weit von ihm lebte eine Familie, die anscheinend keine eigenen Kinder hatte. Sie nahmen Hans-Werner mit zu sich, schnitten ihm die Haare und ließen ihn bei sich wohnen. Das waren gute Menschen, allerdings missfiel ihnen, dass Hans-Werner jede Nacht das Bett nässte. So musste er wieder in sein Haus zurückkehren und weiter betteln.
Eines Abends erhielt Hans-Werner Besuch von einer unbekannten Frau, die ihm eine Decke brachte und damit zudeckte. Einige Tage später kam sie noch einmal, um ihn abzuholen und mit zu sich nach Hause zu nehmen. Sie hieß Marijona Drižnienė. Im Sommer 1947 brachte sie ihn zu ihrem kindelosen Bruder Ignas Drižnius. So kam Hans-Werner nach Kampiškiai unweit von Kaunas (das Dorf wurde 1959 geflutet, als das Wasserkraftwerk Kaunas gebaut wurde) zu Ignas Drižnius und Veronika Drižniuvienė.
Hans-Werner erzählt: „Ich war ja eigentlich ein Städter, aber dort wurde ich zum Landmenschen. Bei meinen Stiefeltern änderte sich mein Leben von Grund auf. Ich musste nicht mehr betteln, ich hatte ein Dach über dem Kopf und einen Platz bei Tisch. Das Leben begann in geraden Bahnen zu verlaufen und ich musste keine Angst mehr haben. Wir gewöhnten uns aneinander. “
1947 (1948) wurde Hans-Werner als Ignas Drižnius' Sohn Jonas Drižnius gemeldet. Der damalige Amtsvorsteher riskierte einiges, denn eine Meldung ohne Personaldokumente war nicht erlaubt. Alles nahm jedoch ein gutes Ende. Ab Herbst 1948 konnte Jonas Drižnius die Grundschule in Viršužiglys (heute Rajongemeinde Kaunas) besuchen.
Nach der Grundschule durfte Jonas Drižnius weiter lernen. Er besuchte die Siebenjährige Schule, die Mittelschule sowie die Pädagogische Schule Marijampolė (heute Fachhochschule Marijampolė) ab und wurde Lehrer. 1981 schloss er ein Fernstudium an der Fakultät für Naturwissenschaft und Geografie des Pädagogischen Instituts Vilnius (heute Universität für Erziehungswissenschaften Vilnius) als Geograph ab. Von da an unterrichtete er an Dorfschulen.
1963 heiratete er eine Lehrerin und bekam mit ihr zwei Töchter.
Ende 1996 erhielten er und seine Frau die Erlaubnis in Deutschland zu leben. Er hoffte, dass es dort leichter sein würde, Informationen über seine Angehörigen zu erhalten. Trotz aller Bemühungen (er schrieb Anfragen an Archive, an das Rote Kreuz und auch an Einzelpersonen) konnte er nichts in Erfahrung bringen.
Hans-Werner meint: „Auch wenn ich gebürtiger Deutscher bin, soll sich meine letzte Ruhestätte in Litauen befinden. Litauen ist mir lieb und teuer, denn das Land hat mir mein zweites Leben geschenkt. Ich liebe das Land mit seinen Menschen, seiner Kultur und seinen Sitten und werde es immer lieben. Das ist meine zweite Heimat.“