Harc Gladstein
Anicetas Mačiulskis
„Die ganze Zeit hatte ich Angst und Hunger.“
Harc Gladstein kennt sein genaues Geburtsdatum und seinen genauen Geburtsort in Ostreußen nicht. Nicht einmalbezüglich seines Namens ist er sich sicher. Er meint, dass er gerade einmal sechs Jahre als war, als alles begann. Seine Erinnerungen sind daher mehr als lückenhaft.
Harc erinnert sich, dass er einen zwei Jahre jüngeren blonden Bruder hatte. Auch seine Mutter war blond. Aus ihren Erzählungen weiß er noch, dass der Vater Kranführer im Hafen war.
Harc war kaum zwei Jahre alt, das der zweite Weltkrieg begann. Sein Vater wurde gleich zu Kriegsbeginn eingezogen. Das Kind hat ihn nie wiedergesehen und auch nie etwas über sein weiteres Schicksal erfahren. Harc und sein Bruder Alfred sind daraufhin mit der Mutter nach Königsberg zur Großmutter mütterlicherseits gezogen. Wo diese genau wohnte, weiß Harc nicht mehr.
Als die Fronten näherrückten, wurden die Flüchtlinge in ein Schiff gesetzt, dass sie irgendwohin bringen sollte. Weshalb sie ausgeschifft wurden, daran kann Harc sich nicht erinnern. Dann setzten die Bombenangriffe der Alliierten ein, und sie fanden zusammen mit vielen anderen Familien auch in einem riesigen Bunker in Bahnhofnähe Schutz. Harc erzählt: „Als die Russen die Stadt eingenommen hatten, haben sie alle aus den Bunkern gescheucht. Ich weiß noch, dass die Großmutter eine selbst gemachte weiße Fahne trug, damit die Russen uns bloß nicht erschießen. Beim Verlassen des Bunkers sahen wir viele Tote. Die Russen haben uns dann als Kolonne aufgestellt. Die ganze Stadt stand in Flammen. Wir sind über irgendeinen Friedhof am Hafen entlang gegangen.“ Später kamen sie einem Gartenhaus unter, wo sie ein Jahr blieben. „Ich weiß noch, dass die Russen meine Mutter in irgendwelche Trümmer führten und dort vergewaltigten. Wir haben geweint und geschrien und sie hat gesagt, wir sollen uns verstecken, damit wir nicht erschossen werden. Ich erinnere mich auch daran, dass sie ein Kind zur Welt brachte, aber das hat nur kurze Zeit gelebt. Die ganze Zeit über haben wir gehungert, denn es gab nichts zu Essen. Unsere Mutter hat dann Suppe aus Brennnesseln gekocht.“ Ansonsten aßen sie, was sie finden konnten. Schließlich hieß es, dass man in Litauen Bort bekommen könne. Die Mutter beschloss daraufhin im Sommer 1947, den siebenjährigen Harc und den fünfjährigen Alfred nach Litauen zu schicken. Sie selbst blieb bei ihrer Mutter, die bereits im Sterben lag. Bis Tilsit fuhren die Brüder mit einem Armeefahrzeug, von dort aus mit dem Zug, indem sie sich zusammen mit vielen anderen Kindern an Güterwaggone hängten. Als sie nach langen Entbehrungen in Litauen ankamen, erwartete sie der nächste Schicksalsschlag: sie wurden getrennt. Alfred wurde von eine litauischen Familie in Šiauliai aufgenommen. Harc glaubt zumindest, dass das Šiauliai war, denn erinnert sich an den Bahnhof und die Mauern der Schuhfabrik „Elnias“. Die Brüder haben sich nicht mehr wiedergesehen, und Harc zog von da an alleine weiter. Er gelangte unverhofft zum Bahnhof Plungė, wo er ohne lange nachzudenken aus dem Zug kroch und über die Felder weiterwanderte, wohin ihn das Auge trug. Bald darauf gelangte er nach Noriškiai (heute Rajongemeinde Plungė). Harc erzählt: „Es war August und die Menschen waren bei der Roggenernte. Ein paar Erntearbeiter fanden mich verlaust und abgerissen in einem Graben und nahmen mich mit zu sich nach Hause.“ Harc war damals wohl sechs oder sieben Jahre alt, völlig geschwächt und sprach kein Wort Litauisch. Jonas und Zuzana Mačiulskiai, die ihn aufgenommen hatten, waren selbst kinderlos. Sie adoptierten ihn und ließen ihn taufen. Als er ein Jahr später schon etwas Litauisch sprach, durfte er die Schule besuchen. Seine Muttersprache vergaß er mit der Zeit, weil es niemanden gab, mit dem er hätte Deutsch sprechen können. Da er für die Einschulung eine Geburtsurkunde benötigte, legte eine Ärztekommission sein Geburtsdatum mit dem 15. August 1938 fest. Auch einen neuen Namen erhielt er: er war von nun an Anicetas Mačiulskis. Im Dorf und in der Schule wusste trotzdem jeder, dass er ein „kleiner Deutscher“ (vokietukas) war. Er wurde daher von den dortigen stribai [Kollaborateure der Sowjets] auf Schritt und Tritt verfolgt, weil sie argwöhnten, dass er irgendwem Nachrichten überbringt. Das waren unruhige Zeiten damals. Der Pflegevater Jonas Mačiulskis wurde schließlich von irgendjemandem erschossen, und der Familie ging es von da an so schlecht, dass Anicetas in der nachbarlochen Kolchose arbeiten musste. Später leistete er seinen Wehrdienst in der sowjetischen Armee.
Nach dem Wehrdienst kehrte er nach Litauen zurück, heiratete und bekam mit seiner Frau zwei Söhne. Viele Jahre arbeitete er als Fahrer.
Am 3. September 2008 wurde Anicetas Mačiulskis der Rechtsstatus als Besatzungsopfer (ehemals obdachloses Kind) zuerkannt.