Renate Kakschies

Renate Kakschies

Irena Kakšytė-Petraitienė

 

Es fällt schwer daran zu denken, was das Kind, das ich damals war, durchmachen musste. Es treibt mir die Tränen in die Augen. Ich weine um meine Kindheit. Wie gern würde ich diesen Abschnitt aus meinem Leben streichen und einfach vergessen. Es ist unmöglich. Es kommt mir vor, als sei das alles gestern gewesen...

 

Renate Kakschies kam am 1. Mai 1939 in Tilsit, Ostpreußen, als Tochter von Helena und Gustav Kakschies zur Welt. Am 15. August 1941 wurde die Schwester Christel, 1943 der Bruder Werner geboren. Der Vater war Fahrer und die Mutter Hausfrau. Renate erzählt: „Uns ging es gut. Christel und ich hatten ein eigenes Spielzimmer. Ich besaß einen Puppenwagen und meine Schwester einen Wagen mit Holzrädern. Beide waren aus Weidenruten geflochten. Besonders Ostern ist mir wegen der vielen bunten Farben im Gedächtnis geblieben. Die Mutter, die Schwester, der Vater und ich…“ Als der 2. Weltkrieg begann, wurde der Vater Gustav Kakschies eingezogen. Im Winter 1943/44 starb er bei Leningrad (heute Sankt Peterburg). Renate erinnert sich: „Wir haben uns den Tod des Vaters sehr zu Herzen genommen. Die Mutter hat den ganzen Tag geweint.“

Als die Einwohner evakuiert werden sollten, gelang es Helena Kakschies mit den Kindern bis nach Litauen zu fahren, wo sie bei der Schwägerin Helena Daniulienė, der Frau ihres Bruders, in Eisraviškiai (heute Rajongemeinde Pagėgiai) unterkamen. Der Bruder von Helena Kakschies war am gleichen Tag wie ihr Mann gefallen. 1945 begann Helena in der Feldküche von russischen Soldaten zu arbeiten, von wo sie den Kindern zu Essen mitbrachte. Renate erzählt: „Eines Tages kam sie nicht wieder. Meine Schwester und ich blieben bei der Tante und haben zwei Tage lang nichts gegessen. Wir saßen nur auf dem Fensterbrett und warteten, dass unsere Mutter uns zu Essen bringt. Aber sie brachte uns nie wieder etwas.“ Seit 1945 ist Helena Kakschies vermisst. Eine Zeitlang kümmerte sich Helena Daniulienė um die drei elternlosen Kinder, doch dann wurde es ihr zu viel und sie gab sie an Verwandte von Renates Mutter in Tauragė ab.

Die Schwester Christel Kakschies wurde von Justina und Juozas Karoliai aufgenommen, die selbst kinderlos waren und sie an Kindes Statt annahmen. Sie tauften sie um im katholischen Glauben und gaben ihr ihren Nachnamen. Aus Christel Kakschies wurde Kristina Karolytė und sie wohnte fortan in Kudirkos Naumiestis (heute Rajongemeinde Šakiai). Sie besuchte die Schule und beendete sieben Klassen. Danach durfte sie nicht mehr zur Schule gehen, weil sie in der zu Haus und in der Kolchose arbeiten musste. Sie heiratete schließlich und bekam fünf Kinder. 2003 starb se.

Auch der Bruder Werner Kakschies wuchs bei Verwandten in Tauragė auf. Er musste von klein auf viel arbeiten und durfte nicht zur Schule gehen. Als er älter war, fuhr er zu seiner Schwester Renate (Irena) nach Lapgiriai (heute Rajongemeinde Jurbarkas). Danach leistete er seinen Wehrdienst in der sowjetischen Armee ab. Nach seiner Rückkehr gründete er eine eigene Familie und zog sieben Kinder groß. Da er im der Kolchose Kontakt mit schädlichen Chemikalien arbeitete, zog er sich eine starke Vergiftung zu und starb bereits 1985.

Renate Kakschies geriet an die Familie Butkai in der Rajongemeinde Tauragė. Renate erzählt: „Die Frau war gut zu mir, aber ihr Mann hat mir arg zugesetzt. Wenn er betrunken nach Hause kam, hat er mich unter den Tisch gelegt und getreten.“ Bei den Butkai blieb Renate zwei Jahre. Danach wurde sie an die Familie von Antanas und Pranciška Ališauskai in Lapgiriai (heute Rajongemeinde Jurbarkas) weitergereicht. Renates Pflegeeltern gaben ihr einen litauischen Namen. So wurde sie Irena Kakšytė. Das Paar behandelte Irena wie seine eigene Tochter, dennoch durfte sie nur vier Jahre zur Schule gehen. Als sie älter wurde, musste sie in der Sowchose Lapgiriai arbeiten. Bei der Arbeit lernte sie Stanislovas Petraitis kennen. Sie heirateten und bekamen drei Töchter: Danutė, Laima und Geda. Später zogen sie nach Vadžgiriai (heute Rajongemeinde Jurbarkas).

1957 oder 1958 konnte Irena auf eigene Faust die Schwester ausfindig machen und erzählt ihr alles über das Schicksal der Familie. Es gelang ihr auch, zu den Verwandten in Deutschland Kontakt aufzunehmen. Ungefähr 1975 trafen sie sich in Vilnius.

„Wir alle sind bei fremden Menschen aufgewachsen. Die einen hatten es besser, die anderen schlechter, aber wir alle haben später unsere eigenen Familien gegründet. Ich habe Kinder, die ich liebe und die mich lieben. Ich habe einen Platz unter der Sonne. Was braucht der Mensch mehr? Ich war glücklich, und habe mit Fleiß und Beharrlichkeit alles erreichen können. Es ist nicht gut, nur von Erinnerungen zu leben.“

Am 22. September 2010 wurde Renate Petraitienė der Rechtsstaus als Besatzungsopfer (ehemals obdachloses Kind) verliehen.