Die Wolfskinder
Von jeher sind Kinder in Kriegszeiten allen Unbilden im besonderen Maße ausgesetzt. Das gilt vor allem für Waisen, die innerhalb kürzester Zeit schwere Schicksalsschläge hinnehmen mussten. Auch die Kinder Ostpreußens haben nach dem Sieg der Sowjetunion zum Ende des 2. Weltkrieges unfassbares Leid erlebt. Sie mussten mit ansehen, wie sowjetische Soldaten in ihr Heim eindrangen, ihre Großmütter, Mütter und Schwestern vergewaltigten und töteten sowie ihr Haus mit allen Dingen, die den Kindern damals kostbar waren, verwüsteten. Sie sahen Flüchtlingstrecks, die von sowjetischen Panzern zermalmt wurden, mit Leichen übersäte Straßen und Bombenkrater. Die ausgehungerten Kinder aßen Hunde, Katzen, Ratte, und Mäuse. Für ein Stück Aas waren sie bereit, zu Fuß kilometerweit zu gehen und sich auch untereinander zu bekämpfen. Hunger und Angst waren die ständigen Begleiter ihrer Kindheit.
Kann man heute eine Antwort finden auf die Frage, wer Schuld hatte am Schicksal solcher Kinder in den Kriegsjahren? Wer für das Schicksal der ostpreußischen Kinder verantwortlich zu machen ist?
„Wolfskinder“ nennt man heute die ostpreußischen Kinder, die in den Jahren 1945–1948 zwischen drei und sechzehn Jahre alt waren und mit einem Elternteil (meistens der Mutter, da der Vater an der Front kämpfte oder bereits in Gefangenschaft geraten war), einem fremden Erwachsenen oder sogar ganz allein auf sich gestellt (wenn sie bereits Vollwaisen waren) zu Fuß oder mit Güterzügen in litauische Städte und Dörfer kamen. Auch bei unwirtlichsten Wetterverhältnissen fuhren sie auf offenen Güterwagen. Wenn sie von der Eisenbahnmiliz gefunden wurden, erhielten sie Schläge, und die Soldaten, die die Güterzüge begleiteten, warfen sie nicht selten vom Zug. Nicht wenige der Kinder fanden auf diese Weise neben den Schienen den Tod. In fast allen Dörfern der Rajongemeinden Vilkaviškis, Marijampolė und Kalvarija längs der Eisenbahnstrecke Königsberg – Kybartai – Kaunas – Vilnius fanden deutsche Kinder Unterschlupf. In der anderen Richtung in den Dörfern der Rajongemeinden Jurbarkas, Tauragė, Klaipėda, Kretinga, Kelmė, Šiauliai und Biržai. Manchmal wurden die Kinder von litauischen Bauern die auf dem Märkten des damaligen Ostpreußen ihre Waren verkauft hatten und denen die Kinder von Müttern oder Verwandten angeboten, manchmal nahezu aufgedrängt worden waren, mit nach Hause genommen. Es kam auch vor, dass eine außenstehende Frau Waisen aufnahm und zum Betteln abrichtete, weil sie hoffte, dass man mit einem Kind mehr Mitleid haben würde.